Suizidgefährdung: Junge Menschen sind besonders betroffen

Die Suizidgefährdung nimmt unter jungen Menschen in Deutschland seit einigen Jahren wieder zu. Laut aktuellen Erhebungen treten psychische Probleme wie Depression und Angststörungen ebenfalls immer häufiger auf. In diesem Artikel erfährst du mehr über die gesellschaftlichen und sozialen Faktoren hinter dieser Entwicklung und welche Hilfen es gibt.

Darum geht's:


Suizid als eine der häufigsten Todesursachen junger Menschen

Die Statistiken sind alarmierend: Zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren ist die Zahl der Suizide wieder gestiegen. Das Statistische Bundesamt zählte für das Jahr 2023 rund 10.300 Selbsttötungen in Deutschland. Damit sind mehr Menschen durch Suizide gestorben als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, AIDS und Drogenmissbrauch.

Warum bei dieser Statistik junge Leute im Fokus stehen, weiß Nina von Ohlen, die Standortleiterin von [U25] in Hamburg, einer Mail-Beratung für suizidgefährdete junge Menschen: „Zunächst einmal muss man sagen, dass sich Suizid durch alle Altersbereiche und Schichten zieht, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Aber es ist richtig, dass junge Menschen bis 25 Jahre proportional mehr Suizidversuche unternehmen als andere Altersgruppen.“ Grundsätzlich seien Menschen eher in Phasen gefährdet, in denen sie große Umbrüche erleben: „Und in dieser Lebenszeit ist einfach ganz viel in Bewegung, es passiert so viel im Körper, aber auch in der Seele. Es stehen wichtige Entscheidungsprozesse an. Das kann Druck auslösen, gleichzeitig ist die Impulskontrolle häufig noch geschwächt, die Abgrenzung von Suizidgedanken fällt da schwerer als in anderen Lebensphasen.“

„Die Quote für Suizidversuche ist bei Mädchen und jungen Frauen dreimal so hoch wie bei gleichaltrigen Jungs und jungen Männern“, weiß Nina.

Aber: Die Suizidrate ist bei Männern allgemein und auch bei männlichen Jugendlichen deutlich erhöht im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen.

Junge Frauen suchten häufiger das Gespräch, würden Kontakt zu Hilfsangeboten knüpfen und sich ein Netzwerk schaffen:
„Das merken wir auch bei unserem Angebot. 80 Prozent derjenigen, die sich hilfesuchend an uns wenden, sind Mädchen und junge Frauen. Das macht uns auch Sorgen. Wie erreichen wir noch besser die Jungs und jungen Männer?“

Welche Faktoren können eine Suizidgefährdung bei jungen Menschen auslösen?

„Suizidalität ist immer das Endergebnis verschiedener Prozesse“, sagt Nina. Keinem Menschen seien Suizidgedanken fremd, irgendwann habe jede oder jeder von uns einmal einen Moment erlebt, in dem sie oder er dachte: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.“ Auslöser für diese Gefühle gerade unter jungen Menschen können unter anderem folgende sein:

  • Krisen in der Familie (Trennung oder Scheidung der Eltern): Die familiäre Situation ist sicher einer der wichtigsten psychologischen Faktoren. Kinder und Jugendliche können aus Belastungssituationen innerhalb der Familie in den meisten Fällen nicht einfach heraustreten.
     
  • Probleme, Trennungen, Anfeindungen im Freundeskreis: Der Freund oder die Freundin macht plötzlich Schluss, die beste Freundin zieht weg oder die Clique gerät in Streit. Für junge Menschen ist das eine nicht zu unterschätzende Belastung.
     
  • Todesfälle von nahestehenden Menschen (Großeltern, Eltern, Freundinnen und Freunden): Trauer kann überwältigend sein. Für Außenstehende ist nicht immer leicht zu erkennen, wenn jemand trauert. Für Trauende ist es leicht, Halt und Lebenssinn zu verlieren.
     
  • Leistungsdruck und Versagensängste in der Schule: Die Erwartungen an junge Menschen in der Schule und auch als Berufsanfängerin oder Berufsanfänger sind heutzutage enorm. Wird der Leistungsdruck zu hoch, wirkt er sich auf die Psyche aus.
     
  • Ausgrenzung und Mobbing: Ob an der Schule, der Universität oder am Arbeitsplatz – Mobbing hat meist weitreichende psychologische Folgen für die betroffenen Personen. Dabei gibt es ganz verschiedene Varianten und Ausprägungen des Mobbings. Eine Ausprägung, die besonders junge Menschen trifft, ist Cybermobbing.


„Diese Krisen können ein junges Leben regelrecht torpedieren“, sagt Nina. Erschwerend käme in dieser Zeit häufig hinzu, dass Betroffene via Social Media den Eindruck hätten, andere Gleichaltrige hätten ihr Leben viel besser im Griff, seien glücklicher, „normaler“: „Es fehlen in dieser Phase oft noch Selbstschutzstrategien. Hilfreich kann es sein, sich klarzumachen, dass viele Menschen ähnliche Krisen durchleben und auch überstehen.“

Depression und Angststörungen

Suizidgedanken geht oft eine Depression voraus. Tatsächlich berichten 40 bis 70 Prozent aller depressiven Patientinnen und Patienten von Suizidgedanken. Und etwa 90 Prozent der Menschen, die durch Suizid sterben, litten an einer psychischen Erkrankung, in den meisten Fällen eben an einer Depression.

Ob man lediglich ein wenig deprimiert ist oder tatsächlich eine Depression vorliegt, ist für die Betroffenen oft nicht leicht einzuschätzen. Mehr zum Thema Depression findest du in diesem Ratgeber.

Zu den Faktoren, die einem Suizid vorausgehen, können auch Angststörungen gehören, die in Deutschland zu den häufigsten psychischen Erkrankungen gehören.

Trauer als Ursache und Folge: Wie Betroffene und Angehörige damit umgehen

Du musst deinen Trauerprozess nicht allein durchstehen. Es gibt Hilfsangebote – auch von den Maltesern: Die Online-Trauerberatung „Via.“ entstand 2019 und ist in erster Linie eine webbasierte, rein schriftliche Online-Beratung der Malteser für Trauernde. Wie das genau funktioniert, hat uns die Projektkoordinatorin Iris Zinkand im Interview erklärt.

Außerdem gibt es lokale Angebote. In Berlin hat die Malteserin Anna Arenz zum Beispiel eine Trauergruppe mit dem Namen „Trauer und Klöße“ ins Leben gerufen.

Verlustangst und Trauer spielt aber auch für die Angehörigen von Menschen mit Suizidgedanken eine enorm große Rolle. Meist sind sich Menschen mit Suizidgedanken nicht im Klaren darüber, wie viel sie ihren Angehörigen und Freunden bedeuten. Hat jemand Suizid begangen, ist das für alle nahestehenden Personen ein großer Schock, denn dieser Tod trifft sie häufig völlig unvorbereitet. Trauer ist wichtig und hilft dabei, den Verlust zu verarbeiten. Doch vielen fällt es schwerer, sagt Conny Kehrbaum, Referentin für Trauerbegleitung bei den Maltesern. „Bei einem Suizid rücken die Trauer und die Trauernden manchmal in den Hintergrund, weil der Fokus sehr oft auf der Todesart liegt: Was ist da passiert? Wie ist es passiert? Das ist nicht so, wenn jemand zum Beispiel durch eine Erkrankung wie Krebs gestorben ist. Suizid ist immer noch ein Tabu, das bei Angehörigen oft Scham auslöst“, sagt Conny. „Immer steht irgendwie im Raum, dass jemand etwas ‚falsch‘ gemacht hat, dass man ‚es‘ hätte verhindern können, vielleicht sogar müssen“.

Du bist nicht allein – Es gibt Hilfe

Suizidgedanken sind kein Zeichen von Schwäche, sondern einfach ein Hinweis darauf, dass die betroffene Person Hilfe benötigt. Es gibt immer Alternativen und Menschen, die zuhören und helfen möchten, auch wenn die Situation in dem jeweiligen Moment ausweglos erscheinen mag.

Sollten bei dir Suizidgedanken auftreten, ist es wichtig zu verstehen, dass du damit nicht auf dich selbst gestellt bist. Viele Betroffene berichten, dass sie sich an diesem Punkt ihres Lebens zu kraftlos fühlten, um mit anderen in Dialog zu treten. Aber auch, wenn es Überwindung und Kraft kostet, ist es essenziell, mit jemandem zu reden.

Wer sich Hilfe sucht, muss sich weder schämen noch Repressalien befürchten. Bei der Suizidprävention geht es unter anderem darum, den suizidgefährdeten Menschen nicht den ausgrenzenden Vorurteilen seiner Umwelt zu überlassen, sondern mit einem größtmöglichen Maß an Verständnis an ihn heranzutreten.

Das bestätigt auch Nina von Ohlen: „Das Wichtigste ist, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Das heißt, mit jemandem offen über die eigenen Gefühle zu sprechen.“ Die Expertin rät Betroffenen ganz klar: „Trau dich in Kontakt mit anderen Menschen zu gehen. Es ist nicht falsch, mal schwere Gedanken zu haben. Das darf sein. Und du kannst sie überwinden.“ Gerade vielen Jüngeren ginge es phasenweise nicht gut, sie fühlten sich von ihrem Leben überfordert. Es könne helfen, auch bei anderen zu schauen, denen es nicht so gut geht: Wie gehen sie mit der Krise um? Wie überstehen sie düstere Phasen? Und sich gleichzeitig zu verdeutlichen, welche Krisen man selbst schon überwunden hat. Unterstützend können folgende Fragen wirken: Wo fand ich damals Halt? Welchen Anker habe ich jetzt? Was tut mir gut?

Warnhinweise für einen möglichen Suizid

Hier noch ein wertvoller Hinweis für all diejenigen, die sich nicht sicher sind, ob ein Mensch in ihrem Umfeld mit suizidalen Tendenzen zu kämpfen hat. Die Betroffenen senden entweder ganz bewusst oder auch unbewusst Signale, denn sie befinden sich in einer außerordentlichen Situation. Warnhinweise kannst du in drei Kategorien unterscheiden: Anzeichen von Suizidalität in Worten, Stimmung und im Verhalten.

  1. Warnzeichen von Suizidalität in Worten
    Die betroffene Person spricht zum Beispiel darüber, dass sie
    • sich das Leben nehmen möchte,
    • keinen Ausweg mehr sieht,
    • für andere nur noch eine Belastung ist,
    • keine Hoffnung mehr hat,
    • sich gefangen fühlt,
    • an nichts anderes mehr denken kann,
    • „versagt“ hat,
    • keinen Sinn mehr im Leben sieht.
       
  2. Warnzeichen von Suizidalität in den Gefühlen
    Die betroffene Person fühlt sich plötzlich
    • sehr traurig und/ oder ängstlich,
    • leicht reizbar und wird schnell wütend,
    • starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt,
    • voller Scham,
    • lustlos und erschöpft.
       
  3. Warnzeichen von Suizidalität im Verhalten
    Die betroffene Person verhält sich anders, indem sie zum Beispiel
    • sich von Freunden und der Familie zurückzieht,
    • Ess- und Schlafgewohnheiten verändert,
    • viel Alkohol trinkt und/ oder Drogen konsumiert,
    • riskantes Verhalten zeigt wie zu schnelles Autofahren,
    • ohne jeden Anlass Gegenstände verschenkt,
    • sich ungewöhnlich verabschiedet.

Was kann ich als Freundin oder Freund tun?

„Viele Menschen haben Sorge, dass sie die oder den Betroffenen erst auf Suizidgedanken bringen, wenn sie das Thema ansprechen.“, sagt Nina, „Diese Sorge ist unbegründet. Es ist wichtig, mit Betroffenen zu reden, ihnen zu signalisieren, dass man sie sieht und ihnen Hilfe anzubieten.“ Wer mit dem Thema allein bleibe, sei stärker suizidgefährdet, als diejenigen, die darüber sprächen. Wichtig sei es zudem, ein Netzwerk zu bilden, auch andere auf das Thema anzusprechen und zu sensibilisieren und gemeinsam Hilfsangebote zu finden. „Und eines ist auch klar: Wenn es eine akute Gefährdung gibt und man sich Sorgen macht, dass die oder der andere den Tag nicht überlebt, dann muss die Polizei oder der Rettungsdienst gerufen werden.“ Deshalb nochmal der eindrückliche Hinweis: Solltest du selbst betroffen sein oder jemanden kennen, der oder die Suizidgedanken äußert, zögere nicht, umgehend einen Arzt oder eine Ärztin zu kontaktieren oder im akuten Notfall sogar die Polizei oder den Rettungsdienst!

Anlaufstellen und Hilfsangebote

Der erste und wichtigste Schritt ist es, sich jemandem anzuvertrauen – sei es eine Freundin beziehungsweise ein Freund, ein Familienmitglied oder jemand, der professionell auf diesem Gebiet beraten kann. Sollten bei dir oder jemandem, den du kennst, Selbstmordgedanken auftreten, kannst du auf Beratungsangebote zugreifen, die in der Regel anonym und kostenlos sind:

  • Suizidprävention ist ein Kernthema der TelefonSeelsorge. Du kannst zu jeder Zeit anrufen unter 0800/111 01 11 oder 0800/111 02 22, chatten oder eine Mail schreiben. Außerdem gibt es eine App zur Selbsthilfe und ein Netzwerk mit Hilfsangeboten vor Ort.
     
  • Eine weitere Telefonhotline bietet dir die Nummer gegen Kummer. Für das Kinder- und Jugendtelefon wählst du die Nummer 116 111. Diese Nummer ist montags bis samstags zwischen 14 und 20 Uhr erreichbar. Außerdem kannst du chatten oder dich per E-Mail an die Helferinnen und Helfer wenden.
     
  • Für alle unter 25 Jahren gibt es die Online-Suizidprävention [U25]. Es ist eine kostenlose und vertrauliche Mailberatung für junge Menschen in Krisen. Das Projekt wird seit 2012 gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband (DCV) angeboten. Dem DCV gehören übrigens auch die Malteser als Tochterverband an. Gefördert wird [U25] vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
     
  • Youth-Life-Line ist eine Online-Beratung für junge Menschen unter 21 Jahren. Wer sich in einer Lebenskrise befindet, kann sich nach der Anmeldung in einem geschützten digitalen Raum an das Team aus Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie geschulten „Peer Beratern“ (junge Ehrenamtliche) wenden.
  • Auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidpräventionen e.V. (DGS) findest du eine Liste mit Hilfsangeboten und jede Menge Informationen rund um das Thema Suizid.


Neben diesen Hilfsangeboten können auch deine Hausarztpraxis, Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie psychiatrische Ambulanzen Anlaufstellen sein.

Halt in einer Gemeinschaft statt Social-Media-Overkill

Es gibt Kinder und Jugendliche, die hauptsächlich parasoziale Kontakte pflegen. Das bedeutet, sie führen Beziehungen zu Influencern, Popstars oder sonstigen Personen aus den Medien, bei denen Interaktionen stets nur in eine Richtung verlaufen. Die jeweilige Person zu kennen, ist dabei eine reine Illusion. Die Sozialen Medien bergen zudem viele weitere Probleme: Insbesondere Jüngere nutzen Instagram, TikTok, WhatsApp und Co. täglich. Über die Risiken und Gefahren von Social Media wissen sie hingegen oft wenig. Neben dem oben angesprochenen Cybermobbing sind es beispielsweise falsche Schönheitsideale, Fake News, Stalking oder die nicht zu unterschätzende Social-Media-Sucht, mit denen die Jugendlichen zu kämpfen haben.

Entgegenwirken kannst du diesem ständigen „Online-sein“, indem du die Gemeinschaft in einem Verein, einer Jugendorganisation oder einer gemeinnützigen Organisation suchst. Laut dem Wissenschaftsmagazin Sprektrum ist zum Beispiel ein ehrenamtliches Engagement nicht nur gut für die Gesellschaft, sondern auch für die eigene Zufriedenheit und Gesundheit. Wenn du erfahren möchtest, welches Ehrenamt zu dir passen könnte, kannst du dich hier informieren oder das Ehrenamtsformular der Malteser ausfüllen.

Um neue Kontakte zu knüpfen und Anschluss in einer Gemeinschaft zu finden, kann auch die Malteser Jungend ein guter Startpunkt sein.


#Psyche & Gesundheit

#Jugendhilfe

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