Misshandlung im Alter: Ein Tabu, das gebrochen werden muss
Es ist ein Thema, das noch immer tabuisiert wird und daher dringend mehr Aufmerksamkeit verdient: Gewalt gegen pflegebedürftige, ältere Menschen. Wo tritt sie auf? Und wie können sich Seniorinnen und Senioren schützen? Hier finden Sie die wichtigsten Infos zum Thema Gewaltprävention für ältere Menschen.
Darum geht’s:
- Zu welchen Übergriffen kommt es gegenüber älteren Menschen?
- Was genau sind gewalttätige Handlungen in der Pflege?
- Wie und wo treten solche Misshandlungen vermehrt auf?
- Wer sind typischerweise die Täter oder Täterinnen?
- Wie können sich Seniorinnen und Senioren schützen?
- Was können Angehörige tun?
- Was können Anzeichen für übergriffiges Verhalten sein?
- An wen kann ich mich als betroffene oder angehörige Person wenden?
Zu welchen Übergriffen kommt es gegenüber älteren Menschen?
„Wir unterschieden in der Pflege zwischen sechs verschiedenen Formen von Gewalt“, sagt Friederike Börner, Präventionsbeauftragte der Malteser Wohnen & Pflege gGmbH, eine Tochtergesellschaft der Malteser und Träger der 34 Malteser Altenpflegeeinrichtungen in Deutschland. Es wird unterschieden zwischen
- psychischer und verbaler Gewalt („kommt am häufigsten vor“)
- physischer (also körperlicher) Gewalt
- finanzieller Ausbeutung
- freiheitsentziehenden Maßnahmen
- aktiver und passiver Vernachlässigung
- sexualisierter Gewalt („der kleinste Bereich“)
„Gewalt, das bedeutet nicht immer gleich, dass jemand geschlagen wird, sie fängt oft kleiner an. Zum Beispiel, indem eine Schutzbefohlene oder ein Schutzbefohlener mal härter angefasst wird – etwa bei der täglichen Pflegeroutine“, sagt Friederike Börner und betont: „Es ist wichtig, sich das zu verdeutlichen und auch zu verstehen, dass es auch schon ein gewalttätiger Akt ist, wenn ich jemanden etwa unnötigerweise in einen Rollstuhl setze, aus dem sie oder er nicht selbst aufstehen kann.“ Auch Beschimpfungen oder etwa die medizinisch nicht indizierte Vergabe von Placebos seien Gewalthandlungen.
Was genau sind gewalttätige Handlungen in der Pflege?
Diese konkreten Handlungen werden vom Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), einer unabhängigen Stiftung, unter anderem als Beispiele für Gewalt in der Pflege eingestuft:
- Körperliche Gewalt: kratzen, schütteln, kneifen, schlagen, unbequem hinsetzen oder hinlegen, bei der Pflege grob vorgehen, gegen den Willen Pflegemaßnahmen durchführen.
- Freiheitsentziehende Maßnahmen: ruhigstellen, einschließen, festbinden oder die Klingel, Prothese oder Brille wegnehmen.
- Psychische Gewalt: schimpfen, drohen, beleidigen, anschreien, ignorieren, demütigen, bloßstellen.
- Vernachlässigung: schlecht medizinisch versorgen, unzureichend pflegen, nicht ausreichend unterstützen, Bedürfnissen nicht entsprechen, sie nicht ernst nehmen, lange auf Hilfe warten lassen.
- Finanzieller Missbrauch: Zugang zum Vermögen einschränken beziehungsweise abschneiden, Geld oder Wertgegenstände stehlen, ungerechtfertigt über Ausgaben entscheiden und sie durchführen, zu Geschenken nötigen, zu geldwerten Aufmerksamkeiten überreden.
- Sexualisierte Gewalt: sexuelle Andeutungen machen, Scham- und Intimgrenzen überschreiten und verletzen, unerwünscht berühren, Intimkontakte verlangen und erzwingen.
Wie und wo treten solche Misshandlungen vermehrt auf?
„Täter und Täterinnen haben in der Regel ein sicheres Gespür für potenzielle Opfer“, sagt Friederike Börner. Zum Opfer würden eher Personen, die sich nicht gut artikulieren können, die sich nicht wehren können aufgrund kognitiver oder körperlicher Einschränkungen.“
Wer sind typischerweise die Täter oder Täterinnen?
„Täter und Täterinnen kommen aus jeder gesellschaftlichen Schicht“, weiß Friederike Börner. 80 Prozent der Gewaltausübenden seien Männer, „aber Gewalt, die von Frauen ausgeübt wurde, ist noch tabuisierter“. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Täter und Täterinnen aus allen Pflegebereichen kommen können.
So gibt es Gewalt
- von Pflegepersonal oder pflegenden Angehörigen gegenüber Pflegebedürftigen.
- von Pflegebedürftigen gegenüber Pflegepersonal und pflegenden Angehörigen.
- von Pflegebedürftigen gegenüber anderen Pflegebedürftigen – etwa in einem Pflegeheim.
Wie können sich Seniorinnen und Senioren schützen?
„Ich rate grundsätzlich dazu, sich im Vorfeld eine Einrichtung oder einen mobilen Pflegedienst genau anzuschauen“, sagt Friederike Börner. „Was für ein Konzept wird vertreten, welchen Verhaltenskodex gibt es?“ Bei den ersten Treffen könne man darauf achten, wie sich die Pflegekraft verhält: „Erklärt sie etwa jeden Schritt, den sie ausführt?“ Wichtig sei es, auf das Bauchgefühl zu hören: So spielten auch die eigene Perspektive, die eigenen Grenzen eine Rolle: Wie nehme ich etwas wahr? „Was für die eine Person schon ein Übergriff ist, ist es für die andere vielleicht noch nicht“, weiß Friederike Börner, „Grundsätzlich gilt aber: Wenn einen etwas stört, dann darf und sollte man das sofort ansprechen.“ Es könne zudem hilfreich sein, mit der Pflegekraft nicht allein zu sein, um die Frage zu klären, wie eine andere Person den Umgang wahrgenommen hat.
Hier gibt es Hilfe
- Externe Fachstellen wie „pro familia“ oder der Weiße Ring hören zu, informieren und helfen – vor Ort, online oder per Telefon.
- Eine telefonische Beratung für Seniorinnen und Senioren bietet auch „Handeln statt Misshandeln. Altern ohne Gewalt“ an – unter der Telefonnummer 02222/ 995 4569.
- Auch die TelefonSeelsorge kann als erste Anlaufstelle unterstützen – telefonisch, online oder auch regional vor Ort.
- Die Malteser haben Präventionsbeauftragte, die als kompetente Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner fungieren, beraten und helfen. Mehr über das Thema Präventionsarbeit bei den Maltesern auch hier.
Was können Angehörige tun?
„Grundsätzlich ist es wichtig, sich über das Thema zu informieren“, sagt Friederike Börner, „Gewalt in der Pflege muss enttabuisiert und Menschen dafür sensibilisiert werden.“ Zahlreiche Informationen gibt es beim Zentrum für Qualität in der Pflege. Friederike Börner rät: „Ich halte es für sinnvoll, grundsätzlich über das Thema Gewalt in der Pflege zu sprechen. Es ist wichtig, dass allen Beteiligten klar ist, dass es so etwas geben kann und dass niemand Gewalt ertragen muss. Wir müssen darüber sprechen, wir können nur gemeinsam etwas gegen Gewalt in der Pflege tun.“ Viele Pflegebedürftige würden denken, sie seien auf die Pflegekräfte angewiesen und hielten deshalb lieber den Mund: „Aber es ist absolut in Ordnung 'nein' zu sagen – zu Dingen, die man nicht möchte. Und das kann individuell sehr verschieden sein. Jede Person hat das Recht, gut behandelt zu werden.“
Was können Anzeichen für übergriffiges Verhalten sein?
„Grundsätzlich können sich Täter und Täterinnen sehr gut verstellen“, sagt Friederike Börner, „sie haben immer eine Ausrede parat.“ Deshalb sei es wichtig, auch auf kleine Signale zu achten und auf seinen Instinkt zu setzen. Hinweise könnten vermehrte verbale Auseinandersetzungen, ein unfreundliches Miteinander, ein unprofessioneller Umgang und natürlich jede Form von Verletzungen wie etwa Hämatome, blaue Flecken oder Wunden sein. Auch, wenn sich ein Angehöriger plötzlich verändert, sich zurückzieht und verschließt, sollte man genauer hinschauen.
An wen kann ich mich wenden als betroffene oder angehörige Person wenden?
„Auf jeden Fall sollte man mit jemandem sprechen, der einem wirklich zuhört, von dem man sich wahrgenommen fühlt“, rät Friederike Börner. Eine Ansprechpartnerin oder ein Ansprechpartner könne etwa die Pflegedienstleitung sein bzw. die Leitung der Einrichtung. In einigen Häusern gibt es auch Präventionsbeauftragte. „Bei uns Maltesern zum Beispiel gibt es ein internes Meldeverfahren. Sobald der Verdacht einer Gewalttat besteht, werde ich als Präventionsbeauftragte hinzugezogen“, erklärt Friederike Börner, „ich begleite dann den gesamten weiteren Prozess. Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen, die wir ergreifen können, um die Situation zu beurteilen und dementsprechend auch zu handeln.“ Gibt es solche spezialisierten Ansprechpartner nicht, rät die Expertin: „Wenn der Verdacht auf körperliche Gewalt besteht, sollte unbedingt eine Ärztin oder ein Arzt hinzugezogen werden, um die Ursache für die Verletzungen zu ermitteln“, sagt Friederike Börner. Außerdem sollten Fotos gemacht, der Vorgang dokumentiert und die Polizei eingeschaltet werden.
Das Malteser Schutzkonzept
Um Schutzbefohlenen in den Einrichtungen der Malteser Wohnen & Pflegen gGmbH ein sicheres Gefühl zu geben und um im Fall der Fälle angemessen reagieren zu können, gibt es das Malteser Schutzkonzept zur Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt im Bereich Wohnen & Pflegen. Darin befinden sich wichtige Infos rund um den Verhaltenskodex, Handlungsmöglichkeiten sowie Hilfs- und Unterstützungsangebote.