Stayees: Warum sie bleiben, statt zu flüchten
Jedes Jahr flüchten Millionen Menschen aus ihrer Heimat vor Krieg oder bewaffneten Konflikten. Deutlich mehr Menschen können oder wollen nicht flüchten. Was bewegt sie dazu, im Krieg zu bleiben? Und wie können wir diese Menschen unterstützen? Hier erfährst du das Wichtigste über die sogenannten Stayees.
Darum geht’s:
Wer sind die Stayees?
Alles hinter sich lassen, um in Sicherheit und Frieden zu leben? Dafür nehmen Millionen Menschen jedes Jahr eine lange und gefährliche Flucht auf sich. In den Medien hören wir viel über die Geflüchteten und die Diskussionen über Migrationsbewegungen. Kaum mediale Aufmerksamkeit bekommen dagegen diejenigen, die in ihrer Heimat bleiben und das, obwohl sie den größeren Anteil der von Krieg und Gewaltkonflikten Betroffenen ausmachen. Sie werden als Stayees bezeichnet, abgeleitet vom englischen Wort stay, was „bleiben“ bedeutet.
Seit 2011 tobt zum Beispiel in Syrien ein verheerender Bürgerkrieg: Zieht man die hohe Zahl der Auslands- und Binnenvertriebenen von der Einwohnerzahl Syriens vor dem Krieg ab, Kommt man zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Bevölkerung nicht geflohen ist. Doch warum flüchten diese Menschen nicht? Und wie können wir ihnen helfen? Mit diesen Fragen hat sich die Wissenschaftlerin Nadine Biehler beschäftigt. In ihrer Publikation bei der Stiftung Wissenschaft und Politik von 2023 möchte sie eine Wissenslücke schließen, denn über die Stayees und ihre Motive ist bisher wenig bekannt.
Warum bleiben Menschen dort, wo es für sie gefährlich ist?
Viele können es sich nicht vorstellen, dass ein Mensch trotz eines bewaffneten Konfliktes nicht sofort flüchtet. Bleiben, obwohl Leib und Leben gefährdet sind? So einfach ist die Sache nicht! Ob ein Mensch sich fürs Bleiben oder die Flucht entscheidet, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bisher hat die Forschung sich hauptsächlich auf die Frage konzentriert: Was bringt Menschen dazu, zu flüchten? Die Wissenschaftlerin Nadine Biehler fragt andersherum: Was bringt Menschen dazu, zu bleiben? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil es bisher nur wenig Forschung dazu gibt. Schließlich können Stayees schlecht befragt werden, gerade weil sie in gefährlichen Gebieten leben. Darum stützt sich Biehler auf Erkenntnisse aus der Forschung zur Entscheidungsfindung.
Welche Faktoren führen dazu, dass Menschen in ihrer Heimat bleiben, obwohl mit Waffen gekämpft wird? Jeder Mensch ist anders, darum gibt es ganz viele unterschiedliche Faktoren. Biehler vermutet, dass zwei Faktoren besonders ausschlaggebend sind: die eigenen Wünsche der Menschen und die äußeren Umstände. Grundsätzlich machen alle Menschen eine Kosten-Nutzen-Rechnung, bevor sie eine Entscheidung fällen. In diesem Fall wägen die Menschen die Gefahren vor Ort mit den Gefahren einer Flucht ab und fragen sich: Was kostet es mich, wenn ich fliehe und was, wenn ich bleibe? Die Stayees kommen zu dem Schluss, dass die Kosten der Flucht höher sind, als wenn sie bleiben. Bei der Kosten-Nutzen-Rechnung geht es natürlich nicht nur um Geld und Vermögen. Es geht darum, wie lang und beschwerlich der Fluchtweg ist, ob jemand Beziehungen ins sichere Ausland hat, wie sehr jemand persönlich von Kämpfen oder Verfolgungen betroffen ist und wie nah die Kämpfe stattfinden. Auch die eigene körperliche und mentale Fitness ist ausschlaggebend, denn eine Flucht ist anstrengend und mit Krankheiten, Gebrechen oder Behinderungen schwerer bis gar nicht zu bewältigen.
Daten, Zahlen, Fakten
Was würdest du tun, wenn plötzlich ein Krieg ausbricht? Würdest du um jeden Preis fliehen oder würdest du bleiben? Um diese Fragen musst du dir hoffentlich keine ernsthaften Gedanken machen. Millionen anderer Menschen dagegen leider schon./p>
Laut aktuellen Erhebungen gab es fast 200.000 dokumentierte politische Gewaltereignisse – ein Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In rund 50 Ländern herrschen extreme, hohe oder turbulente Konflikte. Besonders schwerwiegend sind die anhaltenden Kriege in Gaza, Myanmar, der Ukraine und im Sudan.
Die Zahl der Menschen auf der Flucht erreichte im Mai 2024 mit rund 120 Millionen einen neuen Höchststand. Das entspricht etwa 1,5 Prozent der Weltbevölkerung. Damit setzt sich der Trend der vergangenen Jahre fort, in denen die Zahl der Vertriebenen kontinuierlich gestiegen ist.
Manche wollen nicht flüchten, andere können es nicht
Nadine Biehler hat drei unterschiedliche Gruppen von Stayees ausgemacht. Die freiwilligen Stayees wollen in ihrer Heimat bleiben, obwohl sie die Mittel für eine Flucht hätten. Finden die Kampfhandlungen weiter weg statt, dann bleiben die Leute häufiger. Das ist zum Beispiel in der West-Ukraine so. Hier sind weniger Menschen von den Kämpfen betroffen als im Osten des Landes, wo die Frontlinie verläuft. Darum gibt es in der West-Ukraine sehr viel mehr Stayees als im Osten. Auch fehlende Informationen können ein Grund zum Bleiben sein. Den Menschen ist dann oft gar nicht klar, wie gefährlich die Lage wirklich ist. Desinformation der Bevölkerung ist ein gängiges Kriegs- und Propagandamittel.
Neben den freiwilligen Stayees, gibt es auch noch die Gruppe der erduldenden Stayees. Sie wollen bleiben, hätten aber auch nicht die Mittel zur Flucht. Die Forscherin Biehler vermutet, dass der Wunsch zu bleiben genau deshalb entsteht, weil diese Menschen nicht flüchten können. Das trifft auf viele Ältere zu. Sie können oder wollen die Strapazen einer Flucht nicht auf sich nehmen und bleiben lieber. Andere Menschen dieser Gruppe sind nicht bereit, ihr Haus aufzugeben oder ihren Betrieb, ihren Hof oder ihr Vermögen. Wer sich um die Familie kümmert und womöglich Angehörige pflegt, möchte diese nicht einfach zurücklassen. Die dritte Gruppe sind die unfreiwilligen Stayees. Sie würden sofort flüchten, wenn sie könnten. Sie haben jedoch keine Möglichkeit, weil ihnen die Ressourcen fehlen oder andere Dinge sie zurückhalten.
Was auch immer der Grund fürs Bleiben ist, die Stayees arrangieren sie sich bestmöglich mit ihrer Situation und wenden verschiedene Überlebensstrategien an.
Die Strategien der Stayees
Unauffällig verhalten, kollaborieren oder rebellieren – so kann man die Strategien der Stayees zusammenfassen. Es gibt ganz viele unterschiedliche Arten, wie Stayees mit ihrer Situation umgehen und sich vor Gewalt schützen. Nach dem Motto „Wer mich nicht sieht, kann mir nichts tun“ ziehen sich einige komplett zurück oder sie halten sich ganz genau an die Regeln, um bloß nicht aufzufallen.
Andere dagegen gehen in den aktiven Widerstand und protestieren offen gegen Krieg und Kämpfe. Manche Stayees engagieren sich in Vermittlung zwischen den Kämpfenden und der Zivilbevölkerung. Sie suchen ganz gezielt den Dialog. Steigen die Gefahren für Stayees, flüchten sie manchmal auch für eine kurze Zeit. Einige verstecken sich im Nachbarort, bei anderen Familienmitgliedern oder in einem nahegelegenen Wald.
Sobald die Lage wieder etwas ruhiger wird, kommen sie zu ihrem Wohnort zurück. Auch Selbstverteidigung mit Waffen ist Strategie. Viele Stayees wenden mehrere Strategien gleichzeitig an, um an ihrem Heimatort weiterleben zu können. Allerdings schließt Biehler nicht aus, dass Stayees sich irgendwann doch für eine Flucht entscheiden, wenn entweder ihre Lage schlimmer wird oder sich doch eine Fluchtmöglichkeit für sie bietet.
Welche Hilfe brauchen Stayees?
In ihrer Forschungsarbeit möchte Biehler für Verständnis gegenüber der Situation von Stayees werben und ihre Bedürfnisse sichtbar machen. Nicht alle Menschen haben die Möglichkeit, eine Flucht auf sich zu nehmen, und andere möchten ihre Heimat nicht verlassen. Kennen wir die Situation und Strategien von Stayees, können Hilfsorganisationen wie die Malteser sie besser unterstützen, zum Beispiel mit humanitärer Hilfe. Wer im Krisengebiet bleibt, egal aus welchem Grund, ist vermutlich trotzdem auf Lebensmittel, Kleidung, sauberes Wasser oder medizinische Versorgung angewiesen. So könnten Hilfsgüter zu Stayees gebracht werden.
Hilfe für die Menschen in der Ostukraine
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich die Situation für die Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollen oder können, kontinuierlich verschlechtert.
Die Malteser leisten Hilfe vor Ort auf unterschiedlichste Weise. Während der harten Kriegswinter sind die Menschen besonders auf Unterstützung angewiesen.
Der Malteser Hilfsdienst hat im vergangenen Winter zum Beispiel rund 6.000 Winterpakete mit dringend benötigten Hilfsgütern an Gemeinden in den Regionen Charkiw und Saporischschja verteilt.
Außerdem wurden 1000 Generatoren und 20 Ladestationen an die Gemeinden in Frontnähe übergeben.
Güter wie Nahrungsmittel oder Medikamente werden überall gebraucht, doch die Hilfsangebote reichen noch viel weiter: Zum Beispiel erhielten mehr als 250 Ukrainer moderne Prothesen. Fast 10.000 Kinder erhielten im Rahmen der Aktion „Nikolaus für Kinder in Not“ Geschenke. Und da die Psyche in Kriegszeiten besonders stark leidet, boten die Malteser bislang rund 37.000 Menschen in der Ukraine psychologische Unterstützungsangebote an, um langfristige Traumata so gut es geht zu verhindern.
Der Krieg verändert alles, doch das Wichtigste bleibt unberührt:
„unsere Fähigkeit, füreinander da zu sein und an dieser Welt festzuhalten, selbst wenn sie erschüttert wird. Psychologische Resilienz bedeutet, Schwierigkeiten gemeinsam zu überwinden, einen Sinn zu finden und den Weg in die Zukunft fortzusetzen.“
Pavlo Titko, Leiter der ukrainischen Malteser
Unterstütze die Arbeit der Malteser
Wenn du die Arbeit der Malteser und ihre Hilfsleistungen, wie zum Beispiel die Verteilung von Hilfsgütern in der Ostukraine, unterstützen möchtest, kannst du das zum Beispiel mit einer Spende an die Malteser tun.