Vergiss Mein Nie: Kreative Trauerbegleitung

Der Tod ist ein heikles Thema. Obwohl er zum Leben dazugehört, wollen wir uns so wenig, wie möglich damit beschäftigen. Die Hamburgerin Anemone Zeim ist Trauerbegleiterin. In Coachings und Kreativitätsworkshops hilft sie Menschen, ihre Trauer zu verarbeiten und zwar so, wie es jeder Einzelne für sich braucht. Dafür kommen die Trauernden in Anemones Ladengeschäft Vergiss Mein Nie in der Nähe des Schanzenviertels. Wer hier eine verdunkelte Schaufensterscheibe in schwarzen, beigen oder grauen Farbtönen erwartet, liegt daneben. Alles ist bunt und hell. Hier gibt es nicht nur viel Raum für Trauer, sondern auch für Kreativität. In Workshops erstellen die Trauernden ihre ganz persönlichen Erinnerungsstücke und Anemone unterstützt sie dabei. 

Darum geht's:


Von einer Beerdigung zum eigenen Unternehmen

„Wollen Sie bei uns arbeiten?“ Anemone ist irritiert. Wird ihr da gerade ein Job angeboten? Sie sitzt in einem Bestattungsinstitut, um die Beerdigung ihrer Mutter zu planen. Die Bestatterin ist begeistert von Anemones selbst erstellter Trauerkarte. Lange hatte Anemone über die Gestaltung mit ihrem Vater diskutiert. Er wollte ein Foto der Mutter nehmen, auf der man ihr die schwere Krankheit ansah. „Das war ein sehr ehrliches Bild, aber so wollte ich das nicht. Bevor meine Mutter krank wurde, sah sie über 70 Jahre fit und schick aus. Ich wollte nicht, dass die Leute erschrecken, wenn sie die Karte bekommen. Sie sollten sie in guter Erinnerung behalten.“ Beim Grabschmuck entscheidet sich Anemone gegen das konventionelle Gesteck und bestellt eine wilde Blumenwiese, denn genau so hätte es ihrer Mutter gefallen. Zwei Tage später kommt ein Anruf der Floristin: so etwas Schönes durfte sie noch nie machen. Sie bedankt sie bei Anemone.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitet die Diplom-Kommunikationsdesignerin noch in einer Werbeagentur. Aber der Tod lief ihr schon öfter über den Weg, als ihr lieb war. Ihre Schwester starb, als sie noch ein Teenager war, ein schwerer Verlust. Die Beerdigung ihrer Mutter war schließlich der Anstoß für Anemone, sich beruflich dem Thema Trauer zu widmen. Nach verschiedenen Aus- und Weiterbildungen gründet sie 2014 Vergiss Mein Nie. Wer denkt, Trauerbegleiter seien ruhige, bedächtige Menschen, der wird von Anemone begeistert sein. Sie sprüht vor Lebensfreude, Begeisterung und Kreativität. Das schafft sie aber nur, weil sie selbst ihre Trauer intensiv erlebt und verarbeitet hat.

So funktioniert Trauerbegleitung

„Wir gucken immer ein bisschen neidisch auf Mexiko, weil die so bunt und partymäßig sind“, erzählt Anemone. In unserer Gesellschaft ist der Umgang mit dem Tod rational statt emotional und sehr ernst. Kirche und Glaube verlieren an Stellenwert, damit fallen auch viele Rituale weg. Um Trauer verarbeiten zu können, braucht es aber genau diese Rituale. Trauerbegleiter wie Anemone bieten dabei Unterstützung: „Jeder Mensch trauert anders. Das Wichtigste ist, Raum zu geben für die Gefühle und zu sehen, was passiert, wenn man Menschen weinen lässt.”


Jede Träne muss geweint werden, sonst hängt sie sich hintendran.

Anemone Zeim, Gründerin von "Vergiss Mein Nie"


Gemeinsam mit den Trauernden sucht sie nach Ritualen, die ihnen wieder Kraft geben. Die meisten Anfragen kommen per Email. Ob geliebter Mensch oder Haustier, Anemone bietet für jeden Verlust ihre Hilfe an in Sprechstunden und Einzelcoachings. Eine Sprechstunde dauert 75 Minuten. Ganz am Anfang steht die Bestandsaufnahme. Dazu gehört, Verständnis und Akzeptanz für die eigene Trauer zu entwickeln, erklärt Anemone: „Es ist eines der ältesten Gefühle, genau wie die Liebe. Trauern ist ein Prozess, das geht nicht einfach so weg. Man muss den Gefühlsberg besteigen und bewandern“. Dafür nutzt die Trauerbegleiterin mit zweijähriger Ausbildung eine sogenannte Trauerlandkarte. Die Umrisse erinnern an Deutschland, drumherum ist blaues Wasser mit einer Insel, einer Meerjungfrau und einem Wal. Mit dieser Wandkarte reisen Anemones Klienten bildlich durch die vier Phasen der Trauer: vom Nicht-Wahrhaben-Wollen, über Gefühlsausbrüche und Erinnerung bis hin zum Schritt in die Selbstständigkeit.

Manche Klienten kommen nur ein- oder zweimal, andere kommen regelmäßig zu Anemone: „Ich habe eine ältere Dame, sie kommt jedes halbe Jahr, weil sie meine Fragen mag. Sie sagt, dass ich sie damit aus ihrer Komfortzone heraus hole und ihr das guttut.“ Was guttut, entscheidet jeder für sich, ein Trauerbegleiter unterstützt lediglich dabei. Wer bei Anemone Rat sucht, findet sich beim Basteln, stricken, bauen oder Beton gießen wieder.

 

Trauerbegleiter werden

Das kann jeder. Eine spezielle Berufsausbildung gibt es nicht, dafür aber viele Weiterbildungen. Diese können sehr kurz sein, nur für ein Wochenende, oder sehr ausführlich sein, dann dauern sie bis zu zwei Jahre. Eine einheitliche Anlaufstelle und Qualitätsstandards gibt es für diesen Bereich bisher nicht. Der Bundesverband Trauerbegleitung e.V. setzt sich allerdings genau dafür ein. Auf der Homepage findest du viele Informationen rund um das Thema Trauerbegleitung.

 

Mit Kreativität durch die Trauer

„Kreativität ist der Schleichweg zum Herzen.“ Für die Diplom-Designerin ist es nur logisch, Trauerbegleitung und kreatives Arbeiten miteinander zu verknüpfen. Während der Erinnerungsberatung wird gebastelt. „Man hat ja immer irgendetwas von seinen Verwandten. Das liegt meistens herum und starrt einen vorwurfsvoll an. Es erinnert daran, dass ich weiterlebe und der andere nicht. Darum wollen wir Dinge schaffen, die Kraft spenden. Sie sollen keine Staubfänger sein, sondern etwas Positives geben.“

Durch das sogenannte Upcycling von Gegenständen gestalten die Trauernden ihre persönlichen Erinnerungsstücke neu, erschaffen damit ein Symbol, das sie mit dem Verstorbenen verbindet. Es hilft loszulassen, ohne zu verlieren. Da ist der selbstgestrickte Pulli, den die Tochter von ihrer Mutter behalten hat. Sie möchte ihn nicht selber anziehen, weil es nicht ihr Stil ist, trotzdem möchte sie ihn als Erinnerung behalten. Im Gespräch mit Anemone kommt sie auf die Idee, etwas Neues aus der Wolle zu machen. Der Geruch der Mutter und das Material des Pullis bleiben erhalten. Er wird aufgeknüpft und ein Schal daraus gestrickt, den die Tochter selbst auch trägt.

Manche Erinnerungen werden konserviert, für ewig haltbar gemacht in einem Einmachglas. Eine Witwe erinnert sich an ihre Hochzeitsreise. Es ging mit dem Wohnwagen nach Frankreich in die Bretagne. Während eines sehr romantischen Moments am Felsstrand, löste sich plötzlich der Wohnwagen vom Auto und rollt ins Wasser. Ein Schreck mit viel Romantik, diesen ungewöhnlichen Moment verewigt die Witwe zu einem schlichten, schönen Dekorationsgegenstand. Er ist bunt und fröhlich, kurz: ein Hingucker im Regal. Das zeigt, dass Trauer und Verlust nicht grau und düster sein müssen und dass niemand seine Trauer allein verarbeiten muss. In der Trauer begleitet Anemone Menschen in Ausnahmesituationen und inspiriert sie, aus den dunklen Stunden helle und farbenfrohe Erinnerungen zu machen.

Wie in Mexiko den Verstorbenen gedacht wird

Es ist wohl der berühmteste Totenkult der Welt. Jedes Jahr im November werden in Mexiko die Toten geehrt. Am sogenannten Día de los Muertos werden Straßen und Friedhöfe bunt geschmückt. Der mexikanische Glaube besagt, dass die Verstorbenen ihre Familien und Freunde jedes Jahr nach dem Erntedankfest besuchen. Es wird gegessen, getrunken und getanzt. Die Feierlichkeiten starten am 31. Oktober und enden am 2. November. 2003 hat die UNESCO das Fest zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit ernannt.

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