Trauer in der Familie: „Game over“ und der Neustart-Button
Die Journalistin und ehrenamtliche Hospizhelferin Theresa Volk gewährt in diesem Essay Einblick in den Alltag eines Jungen, der mit dem bevorstehenden Verlust seines Bruders umgehen muss. Ihre Erzählung unterstreicht, wie selbst in dunkelsten Momenten Hoffnung und Neuanfänge möglich sind.
Darum geht’s:
Gute, schlechte und mäßige Tage
Wie jeden Donnerstag stehe ich vor dem Kindergarten und warte auf ihn. Er läuft mir entgegen, wirft mir seinen Rucksack zu und lässt sich von mir drücken. Dann funkelt er mich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Am Anfang weiß ich nie, woran ich bin. „Und, wie war’s im Kindergarten?“ Stille. „So, so oder so?“ Ich zeige mit dem Daumen nach oben, zur Seite und nach unten. Er holt die Hand aus der Jackentasche. Sein kleiner Daumen ragt zur Seite. Das passiert zurzeit immer öfter.
Zu Hause begrüßt uns seine Mama. Ich warte im Flur. Er schlüpft aus den Schuhen, rennt ins Schlafzimmer, klopft aufs Bett, damit sein Bruder auch weiß, dass er wieder da ist und packt seine Spielsachen zusammen. Sein Bruder ist zwei Jahre alt und liegt im Wachkoma. Er wird sterben. Wann, weiß keiner, aber alle wissen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Gestorben wird erst zum Schluss, habe ich in der Ausbildung gelernt. Bis es so weit ist, wird gelebt. Also komme ich einmal in der Woche hier her, um zu leben und zu lachen und den Rest zu vergessen. Wir tun das, worauf er Lust hat, ohne Bruder, ohne Rücksicht, ohne Krankheit, ohne Tod. Nur er und ich.
Was jetzt? Game over!
Am Spielplatz tauchen wir ab in unsere Welt. Wir bauen einen Bunker im Sand für das Chamäleon, Zelte aus Ästen und Blättern für „Plastic Man“ und Nester in den Büschen für die Drachen. Wir legen das Gold und die Edelsteine in die Schatzkammer und lassen ihn von Monstern bewachen. Ich grabe tiefe Löcher in den Sand und gieße Wasser hinein, damit auch die Haie, Krokodile und Kalmare einen Ort zum Wohnen haben. Er bringt die riesigen Spinnen und Elefanten an das andere Ende des Sandkastens. Dort ist der Sand trocken. Dort ist Afrika.
Dann geht es los: Der rote Drache ist der Held. Er greift „Plastic Man“ an. Dieser versteckt sich zuerst, dann wagt er sich aus der Deckung, schießt und trifft. Der rote Drache kracht auf den Sandboden. Er ist tot. Ich habe verloren. Ich drehe die Figur auf den Rücken und schaue ihn an. „Was jetzt?“ Mit ernster Stimme sagt er feierlich: „Game over“. Ich muss lachen. Er auch. Dann hält er mir seine kleine Flache Hand vors Gesicht: „Das ist der Neustart-Button. Los drück ihn und schlag ein“. Ich drücke auf den Button und alles beginnt von vorne: Der Drache erwacht zum Leben. Neues Szenario: Ein gigantischer Meteorit schlägt ein und zerstört alle Bunker, Nester und Zelte, sogar Afrika. Spinnen, Elefanten, das Chamäleon, der „Plastic Man“ – alle tot. „Game over“, Neustart-Button, alles wieder gut.
„Hey, du weißt aber schon, dass das im echten Leben nicht so klappt, mit dem Neustart? Wenn wir sterben, dann sind wir für immer tot“, sage ich zu ihm, während wir versuchen, den Bunker wieder aufzubauen.
„Ja klar, weiß ich das. Ich bin ja nicht doof.“
„Was glaubst du denn, passiert, wenn man stirbt?“
„Na, dann ist man da oben.“ Er zeigt in die Luft über seinem Kopf. „Das hat mir Mama schon alles erklärt. Wenn man tot ist, ist der Körper auf dem Friedhof aber alles andere ist da oben irgendwo. Können wir jetzt weiterspielen?“ Er ist fünf. Er hat keine Angst. Und er ist so viel schlauer als ich.
Mut zum Neustart
Drei Monate später stirbt sein Bruder. Der rote Drache sitzt jetzt im Sarg auf seiner Brust, um ihn zu beschützen. Er und ich sprechen nie über seinen Bruder. Doch von seiner Mutter weiß ich, wie sehr er ihn vermisst.
Seit dem Tod hat er sich verändert. Sein kleiner Daumen zeigt immer öfter nach oben, wenn ich ihn vom Kindergarten abhole. Er erzählt von Ausflügen mit seinem Papa und zeigt mir Selbstgebasteltes, das er mit seiner Mama gemacht hat. Er kann jetzt seinen Namen schreiben und die Zahlen bis 20. Er freut sich auf die Schule. Das Leben hat ihn und seiner Familie einen „Neustart“-Button vor die Nase gehalten. Und sie haben eingeschlagen.
Die Arbeit der Kinder- und Jugendhospizdienste
Theresa Volk ist Journalistin und engagiert sich ehrenamtlich beim Kinder- und Jugendhospizdienst der Malteser in München.
Sie gehört zu den Hospizbegleiterinnen und Hospizbegleitern, die Familien unterstützen, wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt ist und/oder sterben wird.
Wenn du mehr über ihre wichtige Arbeit erfahren möchtest, schau doch gerne in unseren Artikel „So unterstützen Kinder- und Jugendhospizdienste Familien“.
Wenn du die Arbeit der Ehrenamtlichen im Hospizdienst unterstützen willst, kannst du das zum Beispiel mit einer Spende an die Malteser tun. Du suchst selbst nach einem für dich passenden Engagement? Dann bringt dich das Ehrenamtsformular der Malteser sicher ans Ziel.