... oder Bitte ein Bier auf Wattebausch
Erfahrungsbericht einer ehrenamtlichen Hospizbegleiterin
Klein und schmächtig liegt sie da. Ein Schlauch an der Nase, daneben tuckert das Sauerstoffgerät. Die blinden Augen, die sie sonst stets geschlossen hielt, sind halb geöffnet und blicken ins Leere. Der Mund steht offen, die hohlen Wangen und die fahle Gesichtsfarbe lassen keinen Zweifel: Frau M. liegt im Sterben. Kein schöner Anblick. Für einen Moment sinkt mein Mut. Kann ich mit einer Sterbenden wirklich gut umgehen - so wie ich es beim Tod meines Vaters konnte, der vor knapp zwei Jahren ein ähnliches Bild bot? Ich gehe die wenigen Schritte zum Bett und sage leise: „Hallo Frau M., ich bin es, die Bettina von den Maltesern. Ich setze mich ein bisschen zu Ihnen.“ Keine Reaktion.
Seit zwei Tagen schon kann sie nicht mehr sprechen. Kopfschütteln geht noch. Das merke ich, als ich sie wenig später frage, ob sie Schmerzen hat. Keine Schmerzen – das ist gut. Aber sie ist sehr unruhig. Immer wieder dreht sie den Kopf, wie um sich Platz zu schaffen. Die Lagerung des Kopfes sieht unbequem aus. Darf ich sie einfach flacher legen? Ich beschließe, auf eine Pflegerin zu warten und setze mich erstmal neben das Bett - wie schon die fünf Wochen vorher, in denen ich jetzt Frau M. als Hospizhelferin begleite.
Ich streichle der alten Dame die feinen grauen Strähnen aus der Stirn, wiederhole das ein paarmal, dann mache ich eine Pause. Kämmen, Gesicht eincremen, Hände massieren - all das genoss sie in den letzten Tagen sehr und sagte es auch immer wieder: „Des is so wunderbar, wie Sie das machen!“ Ein leises Stöhnen ist zu hören. Gut so? Ich weiß es nicht. Ob sie leidet? Allein das Liegen, das Sich-nicht- bewegen-können... „Sie machen das so gut,“ sage ich zu ihr. „So tapfer sind Sie.“ Das meine ich auch wirklich so. Sterben ist nichts für Feiglinge...
Die Tür geht auf, und Frau B. tippelt samt Rollator herein. Die 85jährige Frau wohnt auf der gleichen Station des Altenheims - und hat sich mit Frau M. angefreundet.
Auch heute also, an einem der wohl letzten Tage, lässt sich Frau B. auf ihrem Hocker neben dem Bett nieder und begrüßt ihre Freundin. „Grüß dich, Agnes“, sagt sie und greift nach der Hand der Sterbenden, die ganz blau und verkrampft ist. „Ganz kalte Hände hast du“, sagt sie. „Mal schauen, ob wir die wieder warm kriegen.“ Ja, ob wir das noch mal schaffen, denke ich. Ich nehme die andere Hand von Frau M. und wärme sie ihr. So sitzen wir und streicheln synchron. Immer noch ist die Patientin unruhig, dreht unablässig den Kopf hin und her. „Ich glaub´, die liegt nicht bequem“, meint jetzt auch Frau B. Vorsichtig hebe ich den Kopf von Frau M. an und ziehe behutsam ein kleines Kissen heraus. Und tatsächlich ... in den folgenden Minuten wird sie zunehmend ruhiger. Der Kopf ruht jetzt wirklich, auch der Atem wird leiser. „Besser“, stellen Frau B. und ich fest.
Zeit für ein Gebet, denke ich. Auch das hat ihr in den letzten Wochen immer gut getan. Also „Dietrich Bonhoeffer“ aufgeschlagen in dem feinen Malteser-Gebetsbüchlein „Von guten Mächten, wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag.“ Beim Lesen spüre ich die tröstende Kraft dieses einzigartigen Gebets und hoffe von Herzen, dass es Frau M. genau so geht. Ich schließe mit einem „Ave Maria“. „Na, ob sie überhaupt noch was hört?“ tönt es mir von der anderen Seite des Bettes entgegen. Frau B. macht wie üblich um ihre Gedanken kein Geheimnis. „Ich bin mir sicher, dass sie etwas davon mitkriegt und wenn sie nur die Liebe in den Worten spürt,“ sage ich leise. Ich lege das Buch zur Seite und streichle Frau M. ein paarmal über die Stirn. Wie man sich an alles gewöhnen kann! Jetzt finde ich das Gesicht der Sterbenden gar nicht mehr schlimm. Ich bin ganz eingetaucht in das Bemühen wahrzunehmen, was ihr gut tut. Und wenn es nur Feinheiten sind. Ich möchte, dass es ihr so gut geht, wie irgend möglich. Nicht mit unwohlem Gefühl, sondern voller Liebe betrachte ich das Gesicht der alten Dame.
Kann sie eigentlich noch trinken? Schwester Nadine betritt das Zimmer. Und ohne dass ich sie frage, gibt mir die Pflegerin ein paar Mull-Tupfer und sagt: „Hier, die können Sie mit Apfelschorle tränken und ihr den Mund damit ausstreichen.“ Ah, ja! Mir fällt ein Tipp aus unserem Ausbildungskurs ein: „Geben Sie dem Patienten das, was er immer gern mochte . Und wenn es Rotwein oder Bier war, dann tränken Sie das Wattestäbchen eben damit - erlaubt ist, was Spaß macht“, so schallt es mir noch in den Ohren. Bier mochte sie gern, das weiß ich noch von ihrem 94. Geburtstag, den wir vor vier Wochen am Krankenbett feierten. Leider ist kein Bier in Reichweite. Diesen letzten Wunsch könnte ich Frau M.s Tochter ans Herz legen. Sie will am Nachmittag die Mutter besuchen.
„Wer wohl mal bei uns am Bett sitzt?" Die Frage von Frau B. holt mich ins Hier und Jetzt zurück. „Ach, ich denke, da wird sich schon auch jemand finden, " gebe ich leise zurück. „Bestimmt!“ Frau B.s Blick ist immer noch voller Zweifel. „Also, wenn Sie sicher gehen wollen, können Sie sich heute schon bei den Maltesern melden“, ermuntere ich, „dann bin ich oder eine meiner Kolleginnen oder Kollegen bei Ihnen!“ Ein Leuchten geht über ihr Gesicht: „und ich möchte Mahler hören, die Auferstehungssinfonie!“ strahlt sie. Die Auferstehungssinfonie... Musik als Symbol der Hoffnung auf ein Jenseits... was kann es Besseres geben?
Ruhe kehrt ein, bei uns Besucherinnen und bei der Patientin. Wortlos widmen wir uns den Händen und halten sie. Warm sind sie nicht mehr geworden, aber etwas Wärme haben wir doch in dieses Sterbezimmer gebracht, das bestätigt mir ein Blick auf den ruhig atmenden Menschen, der zwischen uns liegt.
Fast eineinhalb Stunden war ich jetzt hier! Mir kam es vor wie höchstens 20 Minuten. Zeit zu gehen. Es ist aber auch gut so, das spüre ich. Vielleicht kann ich ja am Nachmittag nochmal vorbeischauen. Oder morgen. Falls es ein morgen gibt.
Ich stehe auf, packe meine Sachen zusammen. „Frau M., ich geh jetzt. Ihre Tochter kommt später. Ich wünsch Ihnen alles Gute. Behüt Sie Gott,“ sage ich und streiche ihr über den Arm. In einer seltsamen Stimmung fahre ich, viel langsamer als sonst, nach Hause. Ich fühle mich wie herauskatapultiert aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der es nicht um Schnelligkeit geht, sondern um das In-Ruhe-Ankommen. Nicht um ein Glas Wasser, sondern um ein Fitzelchen Feuchtigkeit. Nicht um große Gefühle, aber um eine Hand, die die andere hält. Um Worte wie „Von wunderbaren Mächten“ und ein „Behüt´ Sie Gott“.
Zu Hause angekommen, setze ich mich mit einem Kaffee an den See. Schaue auf das Schauspiel der im Wind wogenden Wellen, den blauen Himmel, an dem eine einzelne kleine weiße Wolke aufzieht. Eine Wolke, die sich schnell verändert. Eine Wolke, die sich plötzlich, ja, so ist es, ... in einen Engel verwandelt. Für zehn Sekunden ist die Wolke ein Engel. Ich halte den Atem an. Dann ist es auch schon vorbei. Aus dem Engel ist eine Ente geworden, oder ... Er hat sich aufgelöst.
Mein Handy klingelt. Die Tochter von Frau M. ist dran. „Schön, dass du noch bei ihr warst“, sagt sie. „Das Heim hat angerufen. Meine Mutter ist kurz nach deinem Besuch gestorben. Sie ist ganz friedlich eingeschlafen.“ Wir reden noch eine Weile über alles, was uns in diesem Moment beschäftigt. Als ich auflege, macht sich in mir eine ungeheure Ruhe breit. Eine große Woge der Erleichterung. Die sichere Erkenntnis: Es ist alles gut so, wie es ist. Bis auf die Veilchen, die ich ihr eigentlich noch mitbringen wollte. Als duftenden Frühlingsgruß. Die habe ich leider vergessen.
Bettina Grosselfinger