In meiner Sprechstunde hat sich vor kurzen ein Patient wieder vorgestellt, den ich seit einer gefühlten Ewigkeit betreue. Er hatte schon mit Anfang 40 einen Herzinfarkt, der – weil optimal behandelt – nur zu einem geringen Schaden seiner Herzleistung geführt hat. Ein Bluthochdruck, etwas erhöhtes Cholesterin, Rauchen und ein mäßiges Übergewicht waren die Risikofaktoren für den Infarkt. Mit dem Rauchen hat er gleich aufgehört. Medikamentös konnte der Blutdruck reguliert und das Cholesterin erfolgreich gesenkt werden. Einzig beim Gewicht war noch einige „Luft nach unten“. Nach verschiedenen Diäten ohne anhaltenden Erfolg hat sich der Patient mit dem Übergewicht abgefunden. Im Verlauf ist er sehr zuverlässig mindestens einmal jährlich zur ambulanten Kontrolle gekommen, ohne dass sich größere Auffälligkeiten ergeben hätten. Er hat allerdings inzwischen– jetzt mit Mitte 60 – doch ein erhebliches Übergewicht (118 kg bei 187 cm, entsprechend einen BMI von 34). Außerdem berichtet er jetzt trotz normaler Herzleistung über eine belastungsabhängige Atemnot.
Bei seinem aktuellen Besuch spricht er mich jetzt auf die „Abnehm-Spritze“ an. Er hätte gelesen, dass man damit sehr erfolgreich sein Gewicht reduzieren kann. In den USA wäre das der Renner. Prominente wie Elon Musk oder Robbie Williams und viele Schauspieler würden die Spritze nutzen. Tatsächlich hat sich ein regelrechter Hype um die Abnehm-Spritze entwickelt. Das Interesse ist enorm. Fernsehen und Printmedien haben das Thema regelmäßig im Programm. Nachdem das Medikament jetzt auch in Deutschland rezeptiert werden kann, bekommen auch wir nahezu täglich Anfragen, Tendenz steigend. Die Herstellerfirma feiert Börsenrekorde, kann gleichzeitig die Nachfrage nicht mehr bewältigen, der Internet-Handel boomt und es sind bereits Fälschungen im Umlauf. Inzwischen werden auch in wissenschaftlichen Foren Diskussionen darüber geführt, welchen Stellenwert die Abnehm-Spritze tatsächlich hat. Für die einen ist es ein Lifestyle-Produkt, für die anderen der Durchbruch im Kampf gegen Übergewicht und den damit eng verbundenen Volkskrankheiten, wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Gelenkverschleiß. Höchste Zeit für einen Faktencheck.
Übergewicht erhöht Wahrscheinlichkeit an Volkskrankheiten, Depressionen und Angstzuständen zu erkranken
Fest steht, dass Übergewicht (Body-Mass-Index > 25.0 kg/m²) und Adipositas (Body-Mass-Index > 30.0 kg/m²) weltweit epidemische Ausmaße angenommen haben. Gerade in den letzten Jahren hat die Zahl der Betroffenen noch einmal deutlich zugenommen. Nach aktuellen Zahlen der WHO sind in Deutschland 57 Prozent der Erwachsenen wenigstens übergewichtig, wobei mehr Männer (65 Prozent) als Frauen betroffen sind (48 Prozent). Auch bei den Kindern hat sich die Übergewichts-Problematik nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie deutlich verschärft. So ist jedes dritte Kind der 10- bis 12-Jährigen betroffen. Unstrittig ist, dass die Adipositas als chronische Krankheit das Risiko für das Auftreten der oben genannten Volkserkrankungen deutlich erhöht. Auch mit chronischen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände besteht ein enger Zusammenhang. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Adipositas in Deutschland sind mit geschätzten 63 Milliarden Euro pro Jahr enorm, wobei etwa die Hälfte auf Behandlungen und die andere Hälfte auf Arbeitsunfähigkeit, Produktivitätsverlust und Frührente entfallen.
Im Hinblick auf die Therapie der Adipositas hat sich gezeigt, dass Appelle zu mehr Bewegung und gesunder Ernährung nicht ausreichend sind. Auch Ernährungstherapien und die diätetische Maßnahme in ihrer ganzen Vielfalt haben bei den Betroffenen häufig keinen nachhaltigen Erfolg. Medikamentöse Ansätze wie zum Beispiel die sogenannten „Appetitzügler“ hatten in der Vergangenheit ebenfalls keinen Fortschritt gebracht, sondern waren zum Teil sogar mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Chirurgische Eingriffe werden nur bei Betroffenen mit erheblicher Adipositas empfohlen und sind nicht risikofrei.
Jetzt scheint aber mit der sogenannten Abnehm-Spritze doch der Durchbruch gelungen zu sein. Der darin enthaltende Wirkstoff ist das Semaglutid, ein sogenannter GLP-1-Rezeptor-Agonist, der für die Behandlung des Diabetes mellitus entwickelt worden ist. Neben dem Einfluss auf den Blutzuckerstoffwechsel sorgt es auch dafür, dass der Magen langsamer als gewöhnlich entleert wird. Dadurch hat man weniger Appetit und Hunger, was zu einer Gewichtsabnahme von bis zu 15 Prozent in 1,5 Jahren führen kann. Der Einfluss auf den Blutzuckerspiegel ist gering, so dass auch Nicht-Diabetiker das Präparat verwenden können. Es wird einmal in der Woche ähnlich wie Insulin unter die Haut gespritzt. Beschwerden des Magen-Darm-Traktes, wie Durchfall, Übelkeit bis hin zu Erbrechen, aber auch Verstopfung sind mögliche Nebenwirkungen. Außerdem besteht ein gering erhöhtes Risiko für eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. In Abhängigkeit vom Behandlungsziel – Diabetes-Therapie oder Gewichtsabnahme – ist es mit unterschiedlichen Produktnamen und in unterschiedlicher Dosierung erhältlich. Für die Gewichtsreduktion ist eine etwas höhere Dosis erforderlich als in der Diabetes-Therapie. Zum Abnehmen kann es rezeptiert werden ab einen Body-Mass-Index von mehr als 30 kg/m² oder ab 27 kg/m², wenn gleichzeitig noch eine Begleiterkrankung vorliegt. Voraussetzung ist außerdem, dass die Betroffenen vorher schon konservative Therapiemaßnahmen versucht haben. Wird das Medikament zur Gewichtsreduktion eingesetzt, werden die Kosten von 300 bis 400 Euro im Monat von den Krankenkassen allerdings auch mit Rezept nicht übernommen, da Medikamente zur Gewichtsreduktion grundsätzlich (noch) nicht erstattet werden. In der Therapie des Diabetes ist das Semaglutid dagegen eine normale Krankenkassenleistung.
Chance für Betroffene mit Herzschwäche
Neben dem Effekt auf die Gewichtsreduktion haben zwei größere Studien im vergangenen Jahr auch zeigen können, dass die Abnehm-Spritze bei Patienten mit einer Herzschwäche, die durch eine erhaltene Kontraktionsfähigkeit der linken Herzkammer charakterisiert ist und die inzwischen den größten Anteil der herzinsuffizienten Patienten ausmacht, tatsächlich neben einer Symptomlinderung und größeren Belastbarkeit auch die Prognose verbessert, indem Schlaganfälle oder Herzinfarkt bis hin zum Herz-Kreislauf-Tod seltener in der Gruppe mit der Abnehm-Spritze aufgetreten sind. Somit konnte erstmals gezeigt werden, dass eine medikamentöse Gewichtsreduktion die Sterblichkeit bei übergewichtigen Patienten mit Herzschwäche senkt. Deshalb ist das Semaglutid durchaus eine vielversprechende Option für die betroffenen Patienten. Für sich alleine ist das Semaglutid aber nur nachhaltig erfolgreich, wenn es kontinuierlich weiter genommen wird. Studien haben gezeigt, dass Patienten nach Absetzen der Medikation im Anschluss wieder zugenommen haben (der „Jo-Jo-Effekt“ lässt grüßen). Nur mit einer begleitenden Verhaltenstherapie und einer Umstellung des Lebensstils kann das Gewicht auch ohne weitere Anwendung der Abnehm-Spritze gehalten werden.
Fazit für die Praxis: Ein vielversprechender Ansatz - für bestimmte Patienten
Für Patienten mit einer Herzschwäche und gleichzeitigem Übergewicht beziehungsweise Adipositas, die mit konventionellen Methoden ihr Gewicht nicht reduzieren konnten, ist die Abnehm-Spritze ein sehr vielversprechender therapeutischer Ansatz, der – wenn begleitend durch eine Ernährungs- und Lebensstiländerung – zu einer anhaltenden Gewichtsreduktion und zu einer Prognoseverbesserung der Herzschwäche führen kann. Im Falle des am Anfang vorgestellten Patienten habe ich deswegen tatsächlich die Abnehm-Spritze empfohlen. Bei sonst gesunden Betroffenen, die Semaglutid nur zum Abnehmen einsetzen möchten, bin ich dagegen sehr zurückhaltend. Erwartet werden kann, dass wir in Zukunft noch sehr viel effektivere Medikamente zur Verfügung haben werden. Die nächste Generation der Abnehm-Spritze steht schon in den Startlöchern. Hier soll eine Gewichtsreduktion von bis zu 25 Prozent erreicht werden. Sollten sich in größeren Studien die Ergebnisse bei Patienten mit begleitender Herzschwäche bestätigen oder im Sinne der Prävention die Häufigkeit von Diabetes, Schlaganfall oder Herzinfarkt sogar gesenkt werden können, werden die Abnehm-Spritzen sicher bei weiteren Patientenkollektiven empfohlen und eingesetzt werden. Sicher ist in jeden Fall: Der Hype, aber auch die Diskussion um die Abnehm-Spritze wird vorerst anhalten.