Altersbilder

Was heißt hier alt?

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Lea Franke

Nikolaus Hahn ist viel unterwegs. Im Herbst erkundete der 83-Jährige Prag mit Freunden, jeden Sommer schippert er mit Kollegen über das Ijsselmeer oder er begleitet die 23 verwitweten Damen aus seinem Freundeskreis auf ihre jährliche Busreise. Er hat Autoschlosser gelernt und schon etliche andere Berufe ausgeübt. Er hat in drei Musicals mitgespielt und zwei Nikolauskostüme zu Hause, die er anlegt, wenn der Kinderschutzbund oder die Malteser in Langenfeld Weihnachtsfeste feiern. Seine Frau hat er schon dreimal geheiratet, einmal davon in Las Vegas. Nikolaus Hahn geht jede Woche zur Wassergymnastik und ins Fitnessstudio. „Ich will lebhaft bleiben. Einfach den Tag vorbeiziehen lassen, das kann ich nicht“, sagt er.

Nikolaus Hahn weiß, dass er Glück hat, all diese Sachen noch machen zu können. Aber er ist auch keine Ausnahme. Der medizinische Fortschritt lässt die Deutschen länger leben und länger gut leben. Frauen, die im Jahr 1960 geboren wurden, haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von rund 76 Jahren. Bei Mädchen aus dem Jahrgang 2020 liegt sie schon bei rund 83. Männer haben eine etwas niedrigere Lebenserwartung, aber auch die stieg zwischen 1960 und 2020 von rund 67 auf 78 Jahre. Für die Gesellschaft heißt das, dass sie sich verändert und dass sie auf diese Veränderungen reagieren muss. Wie stemmt die Politik steigende Kosten für das Rentensystem, die Gesundheitsversorgung und die Pflege? Wie gestalten Hilfsorganisationen wie die Malteser ihre sozialen Dienste, die sich an Seniorinnen und Senioren richten? Wie planen Menschen ihren Lebensabend?

Realität oder Klischee?

Bei all diesen Fragen spielen Altersbilder eine Rolle, also allgemeine und individuelle Vorstellungen vom Altern und Alter. Wie alle Stereotype haben auch Altersbilder den Nachteil, dass sie eine große Gruppe von Menschen in eine Schublade stecken. Aber sie helfen auch, die komplexe Realität herunterzubrechen, um sie fassbar zu machen. Altersbilder haben einen Einfluss darauf, was Außenstehende, junge wie alte, von „den Alten“ erwarten. Und sie prägen die individuellen Pläne fürs Alter – das, was für einen selbst erlaubt, möglich, vorstellbar ist. Deshalb ist es wichtig, über Altersbilder zu sprechen – und sie immer wieder zu hinterfragen.

Die Super-Silver-Ager

Deutsche, die heute in den Ruhestand gehen, haben mit Glück noch zwanzig oder dreißig Jahre vor sich, die gefüllt und bereichert werden wollen. So ein Lebensabend ist keine Zeitspanne, die man einfach aussitzt. Viele Ältere suchen deshalb eine Beschäftigung, die ihnen anstelle des Jobs oder der Familienaufgaben einen Sinn stiftet – und viele finden sie als Ehrenamtliche bei den Maltesern. ­Nikolaus Hahn kam so zu seinem ­Ehrenamt bei den Maltesern in Langenfeld, einer 60.000-Seelen-Stadt zwischen Köln und Düsseldorf. Zusammen organisieren sie das Kaffeestübchen für Seniorinnen und Senioren, die Gesellschaft suchen, das Café Malta für Demenzerkrankte und den Mobilen Einkaufswagen. Das jüngste Mitglied des Mobilen ­Einkaufswagens ist 61 Jahre alt. Nikolaus Hahn und seine Kollegen holen ältere Menschen, die nicht mehr allein einkaufen gehen können, mit einem Kleinbus zu Hause ab, fahren sie zum Supermarkt, trinken mit ihnen einen Kaffee beim Bäcker und tragen ihnen zum Schluss die Einkäufe bis in die Küche. „Ich habe einfach diese angeborene Energie“, sagt Nikolaus Hahn. „Ich möchte sie nutzen, um anderen zu helfen.“

Das aktive Altern ist für viele eine Idealvorstellung. Elke Heidenreich schreibt darüber in ihrem aktuellen Bestseller „Altern“, die Werbung zeigt fitte Silver Ager mit vollen, weißen Haaren und noch weißeren Zähnen: Der alte Mensch genießt seine Freiheit, lernt Neues, hilft anderen. „Das ist an sich ja eigentlich ein sehr positives Altersbild“, sagt Dr. Birgit Wolter. Sie ist im Vorstand des Instituts für Gerontologische Forschung in Berlin und hat das Modellprojekt Miteinander-Füreinander für die Malteser evaluiert (mehr dazu auf Seite 13). „Wir dürfen aber nicht vergessen, dass viele Menschen aufgrund von Armut oder Krankheit gar keine Chance haben, diese Vorstellung zu leben.“

Nikolaus Hahn: "Einfach den Tag vorüberziehen lassen, das kann ich nicht."
Lea Franke
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Astrid Zumann: "Manche jungen Leute denken, als alte Frau hätte man automatisch nicht so viel auf dem Kasten."
Dagmar Bauer
Astrid Zumann: "Manche jungen Leute denken, als alte Frau hätte man automatisch nicht so viel auf dem Kasten."
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Dr. Birgit Wolter: Sich Stereotypen zu verweigern und auf das Bauchgefühl zu hören, hält jung.
Birgit Wolter
Dr. Birgit Wolter: Sich Stereotypen zu verweigern und auf das Bauchgefühl zu hören, hält jung.
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Hilfsbedürftig im Alter

Auch das ist ein Stück der Realität, das Altersbild des Mangels: Im Alter schwinden das Hörvermögen, der Freundeskreis, das Einkommen. Es beschreibt Seniorinnen und Senioren als eine Gruppe, die selbst nur noch wenig zur Gesellschaft beiträgt und besondere Zuwendung braucht. „Das Alter nicht als defizitär zu betrachten und die Teilhabe älterer Menschen zu stärken, daran müssen wir als Gesellschaft noch arbeiten“, sagt Birgit
Wolter. Daran arbeiten auch die Malteser. Viele ihrer Angebote in ganz Deutschland richten sich an Seniorinnen und Senioren: Besuchsdienste gegen Einsamkeit, Begleitdienste für mehr Teilhabe, Rikschafahrten für mehr Mobilität. Es sind Angebote der Fürsorge darunter, für jene, die am Ende ihrer Möglichkeiten sind.

Unvorstellbar ist nicht unmöglich

Aber mindestens genauso viele Angebote spielen mit den Grenzen des Vorstellbaren. Sie locken die Müden, sie brechen mit den Stereotypen. Astrid Zumann macht das mit Vorliebe. Sie nennt sich „Uralt-Malteserin“, weil sie seit 42 Jahren dabei ist. Sie gab Fortbildungen für Führungskräfte, unterrichtete Erste-Hilfe-Kurse und bildete Ausbilder aus, bis ihr vor einigen Jahren das Hocken vor den Übungs­puppen zu anstrengend wurde. Was macht man als 85-Jährige mit müden Knien? Man lädt zum Tanz ein. Für die Malteser in Mainz gibt Astrid Zumann, heute 89 Jahre alt, nun Sitztanzkurse. „Da kann man nichts verkehrt machen. Wenn der rechte Arm nicht will, hebt man halt den linken“, sagt sie. Die Bewegung im Sitzen stärkt die Muskeln und verbessert die Mobilität, Musik und Gesellschaft heben die Laune. Auch Astrid Zumann weiß, dass es sie gut getroffen hat und dass ihre Gesundheit nicht selbstverständlich ist. Auch sie hat Tage, an denen sie nur auf dem Sofa sitzen und ein Buch lesen will. „Aber dann weiß ich, da warten Leute auf mich. Ich habe eine Aufgabe und die gibt mir Lebensmut. Als Gläubige fühle ich mich auch ein bisschen verpflichtet, meine Energie einzusetzen, damit es anderen besser geht.“ Auch dieses Altersbild prägt das Ehrenamt, das Bild einer Generation, die Arbeit nicht nur zur Selbsterfüllung, sondern aus Pflichtbewusstsein verrichtet.

Huch, schon so alt?

Vor ein paar Jahren, als sie noch Erste-Hilfe-Ausbildungen leitete, sprach Astrid Zumann vor den Auszubildenden nicht gern über ihr Alter. „Wenn ich es genannt habe, haben die jungen Leute ganz erschrocken geguckt“, erzählt sie. „Vielleicht dachten sie, als alte Frau ist man automatisch ein bisschen tüdelig und hat nicht so viel auf dem Kasten?“ Altersbilder gibt es für alle Lebensabschnitte, positive wie negative. Den Alten wird Lebenserfahrung nachgesagt, den Jungen Tatendrang. Die Alten kommen mit den neuesten Entwicklungen nicht hinterher, die Jungen handeln zu impulsiv, heißt es. Altersbilder zu hinterfragen, hilft auch, den Dialog zwischen den Generationen zu beleben. „Mir ist es sehr wichtig, dass alten Leuten nicht suggeriert wird, sie wären überflüssig“, sagt Astrid Zumann. Man müsse nichts Besonderes leisten, Berge besteigen, die Welt umfliegen, um wertvoll zu sein. Alte Menschen seien allein wegen ihrer Lebenserfahrung meist kluge Beraterinnen oder Berater, sagt Astrid Zumann selbstbewusst.

Lernen fürs Leben

Selbstbewusstsein braucht es, um sich mit dem Altern auszusöhnen. Man braucht es, um sich gegen Klischees zu behaupten. Um geliebte Dinge loszulassen, wenn sie nicht mehr passen. Um neue Dinge zu entdecken, so wie Astrid Zumann es mit ihrem Ehrenamt getan hat. Und man braucht es, um die kleinen und großen Einschränkungen zu ertragen, die das Alter mit sich bringt. Wenn der Körper ständig auf Toilette muss, wenn man sein Gegenüber nicht mehr recht versteht oder die Haare nicht immer frisch gewaschen sind. „Wenn Menschen sich dann selbst abwerten, können sie in eine Abwärtsspirale geraten, die zu sozialem Rückzug führen kann“, weiß Birgit Wolter. Wenn Astrid Zumann mit den Maltesern in Mainz Aktivitäten für Seniorinnen und Senioren plant, denkt sie die besonderen Bedürfnisse mit. Für einen Kunstspaziergang etwa traf sie Vereinbarungen mit Hotels, deren Toiletten die Teilnehmenden unterwegs benutzen durften. Für die meisten Einschränkungen gibt es Lösungen oder praktische Hilfsmittel, finden Astrid Zumann und Nikolaus Hahn, die beide Hörgeräte tragen.

Das Schöne am Altern: Es fällt nicht plötzlich über einen her. Es ist ein Prozess, der ein ganzes Leben dauert. Man hat Zeit, sich auf Veränderungen einzustellen, zu lernen und seine eigenen Altersbilder bei Bedarf anzupassen. Jede und jeder kann für sich bestimmen, was geht und was sein darf: „Wer ein bestimmtes kalendarisches Alter erreicht hat, muss nicht automatisch eine Rolle einnehmen“, sagt Birgit Wolter. „Sich Stereotypen zu verweigern und auf das eigene Bauchgefühl zu hören, hält jung.“