Offene Türen für andere Kulturen
Andreas lässt sich nicht unterkriegen. Geboren mit Missbildungen des Schädels, früh verlassen vom Vater, in Rostock großgezogen von der stets zu ihm haltenden Mutter, freut er sich auf jeden Tag, freut sich, mit Menschen zu sprechen, und freut sich auch, „mal eine draußen zu roochen“. Mit einem Lächeln hilft ihm dabei Adem*, der ihn mittwochs im Seniorenheim in Berlin-Lichtenberg besucht und dann meist mit dem Rollstuhl nach unten in die Lobby zu einer Tasse Kaffee bringt. „Wir fahren dann auch mal ein bisschen raus in den Garten“, berichtet Andreas. Und das nicht nur zum Rauchen. Denn die Blumen und Sträucher haben es dem 66-Jährigen angetan: Nach der Ausbildung zum Gärtner war Andreas in Berlin-Schöneiche in einem Gartenbetrieb tätig.
Projekt Türöffner
Adem kommt aus der Türkei, hat in Istanbul als Computerlehrer gearbeitet und kam vor zwei Jahren mit seiner Frau Müge* nach Berlin. „Projekt Türöffner“ heißt das Programm, mit dem der 34-Jährige und seine Frau seit Oktober vorigen Jahres ehrenamtlich ältere Menschen im Seniorenheim im Ostberliner Bezirk Lichtenberg-Hohenschönhausen besuchen. „Gerade in Ostberlin erreichen uns viele Anfragen älterer Menschen, und es gibt viele geflüchtete Menschen, die Interesse haben, sich für andere in unserer Gesellschaft zu engagieren“, berichtet Susanne Schattschneider, die als Diözesanreferentin die vielfältigen Integrationsprojekte der Malteser in Berlin verantwortet, zu denen nicht nur dieser interkulturelle Besuchsdienst gehört.
200 Ehrenamtliche
Etwa 200 Ehrenamtliche, koordiniert von elf hauptamtlich Mitarbeitenden, betreuen und begleiten bei den Berliner Maltesern regelmäßig circa 450 Geflüchtete und Zugewanderte in aktuell fünf Projekten. Etwa in der Eins-zu-eins-Unterstützung „Hand in Hand“, im „BerufsKompass“, der beim beruflichen Einstieg hilft, oder in speziellen Maßnahmen für Menschen aus der Ukraine, die derzeit knapp die Hälfte der hier betreuten Geflüchteten ausmachen. Und nicht wenige, die sich hier ehrenamtlich engagieren, sind selbst durch Flucht oder Migration nach Deutschland gekommen.
Tapfere Sigrid
„Herein!“, antwortet es leise aus dem Zimmer im zweiten Stock des Seniorenheims, nachdem Müge vorsichtig an die Tür geklopft hat. Drinnen sitzt Sigrid noch auf dem Bett und bemüht sich, die Hausschuhe anzuziehen. Umsichtig hilft ihr die Türkin dabei, und so möchte sich Sigrid nun ihrem Besuch widmen. Die 74-Jährige hatte vor sechs Jahren einen Schlaganfall, der sie rechtsseitig noch immer stark behindert und mit Beeinträchtigungen beim sprachlichen Formulieren quält. Die tapfere Frau mit dem hellen Geist weiß, was sie sagen will, kann es aber nur mühsam und mit hoher Konzentration zum Ausdruck bringen.
Übung für Zwei
Vorlesen geht indessen gut, Schreiben mit links ebenso, sodass Sigrid mit ihrer montäglichen Besucherin eine für beide förderliche Übung gefunden hat: Sie schreibt einen kurzen Alltagssatz auf, den ihr Müge aus einem Heft oder Buch vorliest. Oder Sigrid liest ein Wort oder einen Ausdruck von der Sprachlern-App auf ihrem Tablet vor und Müge hört zu. Und schon entstehen Fragen und Themen, über die zu plaudern sich für beide lohnt. „Manchmal lösen wir auch Sudoku-Aufgaben. Oder wir sprechen über das, was wir letzte Woche gemacht haben“, erzählt Müge von ihrem kurzweiligen wöchentlichen Miteinander.
Ein Freundschaftsprojekt
Müge und Adem lernten sich vor vier Jahren kennen. Ein Jahr später haben sie geheiratet und sind vor zwei Jahren aus Istanbul nach Berlin gekommen. Wie entstand dann die Idee, sich ehrenamtlich zu engagieren? „Wir waren zuerst ganz allein in Deutschland und wollten Menschen kennenlernen“, berichtet die 31-jährige Soziologin. „Wir wollen besser Deutsch lernen, denn ohne Deutschkenntnisse können wir nicht arbeiten. Aber ehrenamtlich können wir etwas tun. Wir können das gesellschaftliche Leben besser kennenlernen und der Gesellschaft von uns aus etwas geben.“ Dabei haben es die älteren Menschen Adem und Müge besonders angetan: „Mit Senioren zu arbeiten, ist sehr gut und sehr wichtig, denn sie brauchen Unterstützung. Sie brauchen einen Freund, wir brauchen einen Freund, so ist es für uns nicht Arbeit, sondern ein Freundschaftsprojekt“, bringt Müge die Win-win-Situation auf den Punkt.
Offene Türen für andere Kulturen
Vorbehalte aufgrund ihrer Herkunft haben Adem und Müge keine gespürt. Im Gegenteil: Mit Interesse und Dankbarkeit freuen sich ihre deutschen Besuchten auf das wöchentliche Zusammensein. „Ich bin sehr, sehr zufrieden mit ihm“, lobt Andreas Adem, und von Sigrid berichtet Müge: „Sie ist begeistert, mit mir zu sprechen. Ich habe ihr gleich am Anfang gesagt, ich lerne Deutsch neu. Ich spreche langsam. Bitte sag mir direkt, wenn ich etwas falsch verstehe oder sage. Das macht sie und ist sehr nett zu mir und meint, dass ich schnell lerne. Und sie hilft mir, deutsche Traditionen wie das Weihnachtsfest zu verstehen, sogar die Weihnachtslieder, die sie mir vorliest, weil’s mit dem Singen nicht so gut geht.“
Begleitung ins Ehrenamt
Ehrenamt für Menschen mit Migrationsbiografie ist das Thema von Agyad Malek, der als Hauptamtlicher das von der Lottostiftung Berlin geförderte Projekt „Berlin. Bunt. Verein(t)“ betreut, in dem die Malteser in Kooperation mit einer Freiwilligenagentur geflüchtete oder zugewanderte Menschen ins Ehrenamt begleiten und dann weiter betreuen. Denn: „Viele von ihnen haben Interesse, sind motiviert, aber oft scheitert es beim Vorstellen in einer Einrichtung oder es bricht nach einer Weile ab“, berichtet der 36-Jährige, der selbst 2015 aus seinem Heimatland Syrien nach Berlin gekommen ist.
Ein tolles Tandem
Etwa vierzig Personen konnten sie in diesem ambitionierten Projekt bereits vermitteln. Wie etwa eine junge Frau aus Afghanistan, die während ihrer Ausbildung zur Pflegekraft auch etwas Ehrenamtliches machen wollte und nun im Sanitätsdienst mitarbeitet. Oder eine junge Syrerin, die seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebt und sich für die Integrationsdienste interessiert. „Wir haben sie mit einer deutschen Ehrenamtlichen zusammengebracht, und die beiden leiten jetzt als tolles Tandem das Ausflugsprojekt ‚Berlin entdecken‘: Sie zeigen Menschen, die noch nicht so lange in der Stadt sind, Berlin. Und können am Reichstag unser demokratisches System erklären“, freut sich Malek.
Weiße Rosen
Kunst kennt keine Grenzen, vor allem nicht in der Musik. Das können auch die Bewohner des Seniorenheims im Osten Berlins erleben: Wenn ein Ehrenamtlicher aus der Türkei einen urdeutschen früheren Chorsänger im Rollstuhl noch mal ins Foyer im Erdgeschoss schiebt und dieser in bester Laune das Lied „Weiße Rosen aus Athen“ der Griechin Nana Mouskouri mit Inbrunst in die Flure schmettert, verzaubert ein Lächeln die Gesichter und kaum ein Auge bleibt trocken.
* Unsere beiden Protagonisten möchten anonym bleiben. Ihre Namen wurden von der Redaktion geändert.